Kommentar 29.07.2016, 08:27 Uhr

Und wieder waren es die bösen «Killerspiele»

Politiker schaffen einmal mehr kausale Zusammenhänge zwischen Gewalt in Amokläufen und einem Hobby Millionen Jugendlicher und Erwachsener. Braucht es diese Diskussion erneut?
Keine Frage: So darf es nicht weitergehen. Das denken wir alle nach der abscheulichen Tat in München. Aber muss nach dem Amoklauf unbedingt wieder über Gewaltdarstellungen in Computerspielen diskutiert werden? So beklagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) einmal mehr «das unerträgliche Ausmass von gewaltverherrlichenden Spielen im Internet». Dieses habe «auch eine schädliche Wirkung gerade auf die Entwicklung auch junger Menschen». Das könne kein vernünftiger Mensch bestreiten. «Und das ist auch etwas, das in unserer Gesellschaft mehr diskutiert werden sollte, als bisher.» Kurz darauf trendet auf Twitter der Hashtag #Killerspiele und erobert dort Platz Eins. «Da vielleicht 90 Prozent aller Amokläufer vor ihrer Tat Brot gegessen haben, könnte man auch ein Verbot von Brot fordern», mokierten sich Twitterer. So oder ähnlich verliefen Killerspiel-Debatten schon immer. Aber blicken wir mal zurück.
In den 1970er- und 1980er-Jahren gab es mehr Terroranschläge als heute. Zwischen 1972 und 1988 starben jährlich in Westeuropa mehr als 150 Menschen durch Terrorangriffe. Danach gehen die Zahlen bei Global Terrorism Database zurück. Einzelne Ausnahmen zeigen sich in den Jahren der Anschläge Norwegen (durch Anders Breivik 2011, 77 Tote) und Paris (durch den IS 2015, 147 Tote). Ohne die Attentate oder Amokläufe jedweder Art verharmlosen zu wollen: Die alleinigen Gründe bei Videospielen zu suchen, ist lächerlich. Schon Mitte der 70er Jahre erschien mit «Death Race» ein erstes Spiel, das eine Gewaltdiskussion anregte. In dem Spiel ging es darum, möglichst viele Strichmännchen mit einem Auto zu überfahren. Dann anfangs Neunziger wurden, nach dem Columbine-Massaker, auf einmal «Doom», die Mutter aller Egoshooter, und das 2D-Bitmap-Prügelspiel «Mortal Kombat» kontrovers diskutiert.
Das Arcade-Game «Death Race» (1976) sorgte für erste Kontroversen bei Gewaltdarstellungen in Videospielen
In den Nullerjahren, mit dem Aufkommen des Taktik-Shooters «Counter-Strike», wurden in Deutschland weitere Schulamokläufe in Erfurt, Emsdetten und Winnenden begangen. Schnell forderten Politiker ein Verbot für sogenannte «Killerspiele». Egoshooter wie Counter-Strike hätten auch Erwachsene nicht spielen dürfen, war die weitverbreitete Meinung. Nun betreten wir bereits die virtuelle Realität. In dem HTC-Vive-Spiel «Brookhaven Experiment» oder bei «Raw Data» hält man selber die virtuellen Waffen in den Händen. Herannahende Kreaturen stehen auf einmal in Lebensgrösse vor dem Spieler. Diese neue Spielerfahrung lässt einem beim ersten Mal fast das Blut in den Adern gefrieren. Müsste ich davon nicht längst Albträume haben?
Früher als Games noch pixeliger waren, standen Eltern, Lehrer und Politiker immer mit der Jugendkultur in Konflikt. Die damals 15-Jährigen «Doom»-Spieler sind aber heute längst Manager oder IT-Journalisten. Man pauschalisiert aber auch heute noch und redet nicht miteinander. Ich selber spiele kein «FIFA» und verfolge kein Fussball, erachte deswegen meine «FIFA»-zockenden Kollegen auf der Redaktion nicht als hyperaktive Horde von Profifussballern, die nach verlorenen Partien ihren Frust an mir ausprügeln. Schliesslich hat mich als Retro-Zocker auch noch nie jemand gefragt, ob ich mir hie und da eine Klempnermütze aufsetze oder mich bei langweiligen Sport-Diskussionen mit Schildkrötenpanzer-Munition bewaffne.
Die Spiele von morgen: In dem VR-Shooter «Raw Data» (HTC Vive) hält man selber die virtuellen Waffen in den Händen und befindet sich dank der Datenbrille mitten in der 3D-Umgebung
Auch während der EM-Zeit blieb ich eher ruhig und flüchtete abends in die virtuelle Realität. Ich bin froh und freue mich, in den nächsten Jahren bald eine andere Gaming-Beschäftigung zu haben als «FIFA». Vor dem Schlafengehen vermeide ich jedoch VR-Ausflüge, weil ich da meist etwas länger brauche, um mit der körperlichen Aktivität wieder herunterzukommen.
Was in den nächsten zehn Jahren sein wird, kann ich selber noch nicht einschätzen. Vielleicht werden Datenbrillen noch dünner als normale Korrukturbrillen und virtuelle Erlebnisse noch realistischer. Bis dahin wird es noch einige K-Wort-Diskussionen geben, die dann aber hoffentlich mit der rasanten Technologie des Internets differenzierter und über mehrere Kanäle ausgetragen werden. Denn nicht nur Politiker und Medienschaffende können ihre Meinung heutzutage über Blogs und Twitter kundtun – auch die Gamer selber.

Autor(in) Simon Gröflin



Kommentare
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opferstock
29.07.2016
Der mit den Spielen ist so alt wie meine Oma. Ich spiele so etwas seit es das gibt und hatte noch nie Lust so etwas RL zu machen. Dann müsste man konsequenterweise auch Action- oder Horrorfilme etc. verbieten. Was genau so hohl wäre. Das mit den Spielen kommt immer dann, wenn man Ausreden braucht für irgendwelche Beknackte, die Leute ermorden müssen. Und wenn man solche Leute halt reinlässt, die bekannt sind für ihr etwas rückständiges Verhalten, muss man sich nicht wundern. Die sagen ja offen was sie wollen. Es will nur niemand hören.

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Tonino
29.07.2016
Und wieder waren es die bössen Killerspiele Wer solche Apps und Spiele erfindet, muss schon beknackt und psychisch gestört sein. Und wer diese noch spielt, ebenso. Die Menschen werden immer primitiver. Wahrscheinlich hat die rückwärtige Evolution schon stattgefunden. Ich habe null Verständnis.

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Geoffrey
30.07.2016
Wenn jemand "Brot essen" mit "Killerspiele spielen" vergleicht, ist diese Person zu naiv um den Zusammenhang wirklich richtig einordnen zu koennen und man kann seine Aussagen nicht ernst nehmen. Die Psychologen beraten Firmen, wie man am besten die Menschen "weich klopft". Man sagt und zeigt das Thema einfach immer wieder jeden Tag mehrere Male. Die gleiche Garde von Spezialisten sagen aber beim Thema Killerspiele genau das Gegenteil. Jder Mensch kann sich selber einmal ueberlegen, ob das so geglaubt werden kann. Geoffrey

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DenialSystem
31.07.2016
Ein guter Artikel. Sachlich und mit gesundem Menschenverstand. Dumm nur, dass genau diejenigen mit geringstem Fachwissen, Erfahrung und Ausbildung am lautesten schreien, obgleich unabhängige Suchtforscher, Kriminologen und Psychologen der gesamten ersten Welt dieses Thema nach unzähligen Studien mit "kein nachweisbarer Zusammenhang zwischen sogenannten Killerspielen und kriminellem Verhalten" ad acta gelegt haben. Gäbe es einen nachweislichen Zusammenhang, müsste man definitiv etwas dagegen tun, keine Frage. Solche Vermutungen gab es vor einigen Jahrzenten nebst vielen anderen Themen auch im Zusammenhang mit Robotik und künstlicher Intelligenz, davor mit Fernsehen/Kinofilmen und noch viele Jahre davor mit Büchern bösen Inhalts. Ohne bereits im Vorfeld über eine kriminelle Veranlagung zu verfügen, sind Computerspiele wie auch Brett- und Kartenspiele augenscheinlich nicht in der Lage, eine solche herbeizuführen. Folglich wäre ein Verbot das Ergebnis reiner Unwissenheit und entbehrte wissenschaftlicher Grundlagen. Das durch die rasante und stetige Veränderung der Pressemedien beinahe schon unumgängliche Gefühl sofortiger, persönlicher Betroffenheit nach jedem tragischen Vorfall rund um den Globus giesst Öl in ein Feuer, das eigentlich seit je her nur glimmte. Terror und Gewalt sind unzweifelhaft schlimme Dinge, die es gemeinsam zu bekämpfen, bestrafen und verhindern gilt. Verzweiflung, Angst und unbegründete Schuldzuweisungen sind im Angesicht drohender Gefahr zwar natürlich, jedoch wenig nützlich auf der Suche nach hilfreichen Massnahmen und Mitteln zur Prävention genannter Ausbrüche.

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slup
02.08.2016
Vielleicht doch ein bisschen? http://www.blick.ch/news/ausland/simulationen-im-internet-ueben-amoklaeufer-ihre-taten-mit-games-id5334111.html